In dieser Studie wird eine Auswahl aus der Fülle der dialektgeographischen Erscheinungen im niederländischen Sprachraum in den
Dienst der niederländischen Sprachgeschichte gestellt. Es wird gezeigt, dass diese Erscheinungen grundlegende Elemente der
Geschichte dieser Sprache sind: Ein Teil von ihnen hat ihre Entstehung bewirkt, ein anderer Teil die Struktur der niederländischen
Standardsprache und ihren Sprachraum gestaltet, ein weiterer Teil eine auffällige räumliche Zweiteilung veranlasst.
Der einführende erste Abschnitt enthält eine Übersicht der Handbücher der externen Sprachgeschichte des Niederländischen. Global gesprochen sind in diesen Werken die Ergebnisse der Dialektologie kaum berücksichtigt worden. Das rechtfertigt ohne weiteres eine Studie, die diese Ergebnisse in den Dienst der niederländischen prachgeschichte explizit beleuchtet. Das kann sie, indem sie das – ursprünglich geologische – Konzept der Stratigraphie, also eines zeitlichen Übereinanderschiebens sprachlicher Neuerungen im geographischen Raum benutzt. Es kommt dann darauf an, die Verbreitung und die Chronologie dieser “Schichten” auch in ihrem Verhältnis zur entstehenden und sich entfaltenden Standardsprache zu erkennen.
In Einteilungsversuchen des niederländischen Sprachraums wird herkömmlicherweise von einem Gegensatz zwischen niederfränkischen und niedersächsischen Dialekten ausgegangen. Weiter wird die selbständigkeit einer dritten Dialektgruppe, des Friesischen, die nicht dem Niederländischen zugerechnet wird, anerkannt. Sie steht auch in dieser Arbeit nicht zur Diskussion, im Gegensatz zu jener des Niedersächsischen in ihrem Verhältnis zum Niederfränkischen. Die Deutung dieses Verhältnisses ist das Thema des zweiten Abschnitts. Am 19. Oktober 1995 wurde das “Niedersächsische” vom niederländischen Parlament, entsprechend Teil II der “Europäischen Sprachencharta”, als Regionalsprache anerkannt. Diese Anerkennung war das Ergebnis des Einsatzes einer Reihe von Sprachregionalisten aus dem Nordosten der Niederlande, die die Unterstützung führender Politiker für ihre Zielsetzung gewinnen konnten. Diese niedersächsische Initiative war offenbar unter dem Einfluss vorheriger Versuche norddeutscher Regionalisten zustandegekommen, die sich für die Anerkennung des Plattdeutschen einsetzten. Die niederländischen “Niedersachsen” sahen ihre Mundarten als die westliche Fortsetzung des Platt- oder Niederdeutschen. Die Anerkennung des Niederdeutschen durch die Bundesrepublik Deutschland hat länger auf sich warten lassen (bis Januar 1999) als die des Niedersächsischen durch die Niederlande – was der Komplexität des deutschen Föderalismus zugeschrieben werden dürfte. Auf die niedersächsische Initiative folgte eine limburgische. Diese führte in der niederländischen Provinz Limburg zum Erfolg, nicht aber in der belgischen. Das Limburgische ist also in der Hälfte seines Gebietes eine anerkannte Regionalsprache, in der anderen Hälfte nicht. Die niederländische Sprachunion (“Nederlandse Taalunie”), eine gemeinsame Einrichtung der Niederlande und Flanderns zur Förderung ihrer Sprache, die inzwischen mit der Beurteilung des belgisch-limburgischen Antrags und auch eines weiteren aus der Provinz Zeeland beauftragt worden war, lehnte beide Anträge mit der Begründung ab, die limburgischen und die zeeländischen Dialekte seien keine Regionalsprachen im Sinne der Sprachencharta. Dieser Begründung ist zuzustimmen, weil beide Dialektgruppen einfach regionale Fortsetzungen anderer zum Niederländischen gehörender Mundartkomplexe sind. Die Konsequenz ist, dass das Limburgische in den Niederlanden zu Unrecht als Regionalsprache anerkannt worden ist. Diese Konsequenz hat die Taalunie auch gezogen. Die Frage, wie es sich mit dem Niedersächsischen verhält, wird im Folgenden beantwortet. Die Auswertung der Begrenzung und des Status der nordöstlichen niederländischen Mundarten in der Dialektologie und in der regionalen Geschichte führt zu der Schlußfolgerung, dass in der Zeit der Romantik und im Hinblick auf das Alter, die Selbständigkeit und die Ausdehnung des Niedersächsischen ein Mythos entstanden ist: Das Niedersächsische wäre die Fortsetzung der Sprache eines autonomen Sachsenstammes, die sich als eigene Größe bis heute behauptet hätte. Die Anhänger dieses Mythos werden von einigen Dialektologen unterstützt, die sich von veralteten Vorstellungen über die Verbindung von Dialekten und germanischen Stämmen und teilweise auch von der geschilderten regionalen Ideologie nicht lösen können. Zahlreiche Einteilungsversuche der niederländischen Dialekte liefern auf diese Weise eine verzerrte Wiedergabe der faktischen Verhältnisse. Ein Versuch einer Auflistung der Sprachmerkmale, die von Dialektologen und Sprachhistorikern für niedersächsisch gehalten worden sind bzw. noch immer gehalten werden, ergibt zwölf Elemente. Sie sind in der großen Mehrheit ostniederländische Relikterscheinungen. Sie haben vormals viel größere Teile des niederländischen Sprachraums eingenommen und erst Jahrhunderte nach der Stammeszeit ihre heutige Verbreitung bekommen. Zum Teil ist außerdem ihre Verbreitung ganz atypisch für das Areal, das für niedersächsisch gehalten wird. Nur zwei Merkmale haben ein Alter, das bis in die Stammeszeit zurückreichen kann, aber deren Verbreitung weicht bedeutend vom postulierten sprachgeographischen Muster ab. Es sind der Einheitsplural auf -t im Präsens der Verbkonjugation und die Realisierung von wgerm. ê/eo und ô als ee und oo oder als Diphthonge, die sich aus letzteren entwickelt haben. Sprachstrukturell können sie aber das Gewicht der Selbständigkeit des Niedersächsischen nicht tragen. Das Konzept “Niedersächsisch” im Sinne einer alten selbständigen Sprache mit einer Verbreitung, die sich gegen das Niederländische und die “fränkischen” Dialekte absetzt, ist also linguistisch untauglich.
Im dritten Abschnitt werden die Entstehung des Niederländischen, die Geschichte und die Verbreitung einer Reihe niederländischer Merkmale in den Dialekten und die Herausbildung des niederländischen Sprachraums besprochen. Die Entstehung wird auf die Übernahme eines östlichen Sprachsystems durch Westgermanen, die im Küstensaum wohnhaft waren, zurückgeführt. Diese “Ingwäonen” sprachen vor der Übernahme eine Sprache, in der nicht nur der Primärumlaut von wgerm. a, sondern auch alle sekundären i-Umlaute phonemisiert waren. Bei ihren sozial überlegenen östlichen Nachbarn, den “Franken”, befanden sich zur Zeit der Übernahme die Sekundärumlaute noch in der allophonischen Phase. Das Ergebnis der Übernahme, die sich nach dem Impositionsmodell, das F. van Coetsem in seinem Buch Loan Phonology and the Two Transfer Types in Language Contact (1988) ausgearbeitet hat, und das von A.F. Buccini auf die Geschichte des Niederländischen angewandt wurde, war eine Sprache mit einem fränkischen phonologischen System und mit einer ingwäonischen Artikulationsbasis. Die Morphologie dieser Sprache war ein reduziertes fränkisches System, das auch eine Anzahl Elemente aus dem ursprünglichen ingwäonischen System enthielt. Nachher änderten sich die soziokulturellen Verhältnisse indem die westliche Bevölkerung sich zur dominanten Gruppe entwickelte und ihre umgestaltete Sprache in östlicher Richtung expansiv wurde. Die Westostrichtung der Verdrängung des i-Umlauts als Lautgesetz und als morphologischer Faktor sowie die Tatsache, dass die niederländische Standardsprache keine Sekundärumlaute und morphologischen Umlaute hat, werden durch diese Theorie einleuchtend erklärt.
Der niederländische Sprachraum ist also das Ergebnis einer Westostbewegung. Die westlichen (flämischen und holländischen) Mundarten enthalten nicht nur unter dem Aspekt des Umlauts, sondern auch bei zahlreichen anderen lautlichen und morphologischen Erscheinungen Merkmale, die mit räumlich abnehmender Intensität von ihren östlichen Nachbarn übernommen wurden. Die auffälligsten Phänomene aus der Lautlehre sind die spontane Palatalisierung von wgerm. û, die Vokalisierung des l in den Verbindungen ald/t und old/t, deren Vokale außerdem zusammenfallen, die Entwicklung von wgerm. eo/ê und ô zu ie und oe ([u]), der Zusammenfall von wgerm. â und gedehntem a und von wgerm. o und u sowie die Spaltung der intervokalischen Konsonantengruppen C + d in stimmhafte und stimm lose Cluster je nachdem C stimmhaft oder stimmlos war. In all diesen Fällen finden sich im Osten Reliktstreifen, in denen die westlichen Neuerungen sich (noch) nicht durchgesetzt haben. Weil das flämische Dialektgebiet mit Eingang der Neuzeit eine eher passive Sprachlandschaft geworden ist, kann als Folge holländischer Neuerungen, die auch in Brabant Erfolg hatten, das Flämische ganz oder teilweise zum Reliktareal werden. Das ist z.B. beim Fehlen der neunl. Diphthongierung der mnl. Hochzungenlaute sowie beim Erhalt des intervokalischen d nach geschlossenen Vokalen und des mnl. auslautenden Schwa der Fall.
In der Formenlehre sind als expansive westliche (also niederländische) Neuerungen vor allem zu nennen: die Ausmerzung des morphologischen Umlauts, die Verallgemeinerung der schwachen Pluralbildung bei den Substantiven, die Verdrängung des Pronomens du durch das Pluralpronomen der zweiten Person und die nachträgliche Verbreitung zusammengesetzter Pronomina mit dem Zweitglied -lieden. Im Wortschatz ist die Dynamik des Westens, vor allem Hollands, überdeutlich. Die diesbezüglichen Beobachtungen gelten aber nur für die jüngste Zeit, weil die wortgeographischen Verteilungen aus früheren Jahrhunderten kaum bekannt sind.
Zwischen Niederländisch und Deutsch ist in der Neuzeit eine Sprachgrenze entstanden. Sie ist die Folge politischer Grenzziehungen, die im Gebiet nördlich des Rheines im Großen und Ganzen schon im 16. Jahrhundert, im Rhein-Maas-Gebiet aber erst im 19. und 20. Jahrhundert vollendet waren. Die Sprachgrenze war in ihrer ersten Phase eine Schreibsprachengrenze. Die gesprochene Alltagssprache waren die Dialekte, zwischen denen es auch in der Nähe der politischen Scheide nur allmähliche Übergänge gab. Durch die zunehmende Bedeutung von Schriftlichkeit, das sich entwickelnde Schulwesen und das Aufkommen der modernen Media gewannen die standardisierten Sprachen Niederländisch und Deutsch seit dem 19. Jahrhundert immer mehr Bedeutung und fingen an, die Mundarten als Sprache des Alltags zu verdrängen, aber auch, sie durch Interferenzen umzugestalten. Heute ist die Struktur der Dialekte westlich der Grenze deutlich niederländisch geprägt, östlich deutsch. Das Endergebnis dieser Entwicklung muss eine Grenze sein, die ohne Einschränkung zwei Sprachen trennt. Vielleicht werden aber auch dann noch in weniger formalen Gesprächssituationen sprachliche Regionalismen, die man weder als niederländisch noch als deutsch bezeichnen kann, zum Vorschein kommen.
Der vierte Abschnitt beschäftigt sich mit den sprachlichen Folgen der Trennung der Niederlande im 17. Jahrhundert. (Die kurze Wiedervereinigung im 19. Jahrhundert [1815-1830] fällt nicht ins Gewicht.) Die Dialekte des heutigen Flämisch-Belgien haben in den letzten vier Jahrhunderten eine Reihe Neuerungen durchgeführt, die in den Niederlanden im engeren Sinne nicht vorkommen, und sie haben eine Reihe anderer Neuerungen, die sich in den Niederlanden durchsetzten, nicht übernommen. Das Ergebnis ist eine nicht unbeträchtliche Zahl von Nordsüdgegensätzen, die zum Teil auch in den Realisierungen der Standardsprache erkennbar sind. In den Dialekten fällt die Begrenzung dieser Erscheinungen in der Regel nicht genau mit der Staatsgrenze zusammen. Hat eine solche Neuerung eine größere Ausdehnung als das jeweilige Territorium, so muss sie auch älter als die politische Grenzbildung sein. Sie ist dann aber im Gebiet jenseits der Grenze regressiv. Ist ihr Gebiet kleiner als das Territorium, dem sie angehört, so ist sie hier expansiv und sie neigt in der Regel dazu, das Gebiet vollständig zu erobern. Das Ergebnis, sowohl der expansiven wie der regressiven Bewegung ist ein tendenzieller Zusammenfall der Begrenzung der Erscheinung mit der Staatsgrenze. Die nordniederländischen Neuerungen sind in der Regel holländischen, die flämisch-belgischen sind brabantischen Ursprungs. Die südlich-brabantischen Neuerungen, die die Stütze der Standardsprache entbehren, erreichen manchmal nicht die Dialekte der beiden Peripherien, Westflandern und Limburg. Das äußert sich gelegentlich in einer engeren Verbindung dieser flämischen Provinzen mit ihren nördlichen (teilweise auch östlichen) niederländischen Nachbarn.
Die wichtigsten Nordsüdgegensätze sind in der Morphologie anzutreffen. Beim allmählichen Schwund der Kasusendungen in den adnominalen Wörtern war der letzte erhaltene formale Gegensatz der zwischen der Subjektendung -e und der Objektendung -en vor Maskulina. In der Folge wurde auch dieser Gegensatz aufgehoben, im Norden zugunsten der Subjekt-, im Süden zugunsten der Objektendung. Im ersten Fall gab es keinen adnominalen Gegensatz zwischen Maskulina und Feminina mehr. Diese fielen in ein Genus Commune zusammen, was ein Zweigenerasystem ergab. Im zweiten Fall blieb das alte Dreigenerasystem erhalten. Das Zweigenerasystem hat sich in der nördlichen Standardsprache durchgesetzt und wird auch von den nordniederländischen Dialekten südlich der großen Flüsse immer mehr übernommen. In Flämisch-Belgien behauptet sich das Dreigenerasystem, auch in Realisierungen der Standardsprache. Das End-n in den Adnominalia vor Maskulina erscheint hier aber nur noch in bestimmten phonetischen Umgebungen: vor Vokal, h, d, t, manchmal auch vor b oder r.
Im größeren, zentralen Teil von Flämisch-Belgien hat sich das alte Pronomen der zweiten Person Plural gij behauptet. Es hat einerseits seinen Verwendungsbereich erweitert indem es – nicht nur hier, sondern auch im Westen der Niederlande – in der zweiten Person Singular das alte du verdrängte. Andererseits hat es ihn eingeengt indem für die zweite Person Plural nun vielfach Formen verwendet werden, die mit -lieden ‘Leute’ erweitert worden sind (gijlie, standardsprachlich jullie). Die Form jullie ist eigentlich die Erweiterung von jij (Objektform jou), einem in der Enklise entstandenen Pronomen, das nördlich der großen Flüsse gij verdrängt und als Vertraulichkeitsform standardsprachlichen Status bekommen hat. Zwischen den Flüssen und der belgischen Grenze verdrängen jij und jullie das alte gij mit seinen Erweiterungen. In Flämisch-Belgien können letztere sich noch gut behaupten, doch ist jullie auch hier in der überlokalen Umgangssprache schon relativ häufig.
Südliche, vor allem brabantische Dialekte verwenden repetierende Formen der Subjekt-Personalpronomina. Die auffälligsten sind die der ersten Person Singular, die in verschiedenen syntaktischen Verbindungen auftreten: in Hauptsätzen (ik heb ekik [ = ichich] dat niet gedaan; dat heb ekik niet gedaan) und in Nebensätzen (hij zegt dat ekik dat gedaan heb; had ekik dat geweten, dan was ik niet gekomen). Sie werden in Holland nicht verwendet. Der erste Typ, mit dreimaligem ik, gilt als belgisches Schibboleth, obwohl er in Westflandern und Limburg nicht vorkommt. Reste des repetierenden ik in den niederländischen Provinzen Nordbrabant und Zeeland sind heute nahezu ausgestorben. Obwohl diese Pronominalformen als dialektal gelten, kann man sie in der überlokalen Umgangssprache in Flämisch-Belgien häufig hören.
Die Diminutiva haben in der Standardsprache und in nördlichen Dialekten die Endung -je (oder mit Erweiterung -pje, -kje, -tje, -etje). Die südlichen und zum Teil die östlichen Dialekte haben daneben ein positionell gebundenes Suffix -ke(n) (-eke[n], -ske[n]). In einem südbrabantischen Kerngebiet kommt sogar ausschließlich dieses Suffix vor. Die Grenze zwischen nordwestlichem -je und südöstlichem partiellem -ke(n) läuft schräg durch den Sprachraum. Die südöstlichen Mundarten innerhalb der Niederlande unterliegen dem Einfluss des holländisch-standardsprachlichen Systems. In Flämisch-Belgien entziehen sich die Dialekte bis heute diesem Einfluss. In Reali sierungen der Standardsprache verläuft die Anpassung hier recht mühsam. Westflandern, dessen Mundarten eigentlich Varianten des holländischen Systems aufweisen, neigt sogar zur Übernahme brabantischer Formen.
Auch im Wortschatz und in der Syntax haben sich Nordsüdgegensätze entwickelt. Sie sind aber weniger geeignet, in einer zusammenfassenden Darstellung beschrieben zu werden, weil beschreiben hier eigentlich aufzählen heißt. Was schließlich die Aussprache betrifft, hier hat in Flandern sprachliche Normierung wesentlich früher eingesetzt als in anderen Bereichen, so dass man von einer eigenen südlichen orthophonischen Norm reden kann. Sie unterscheidet sich in einer Reihe von Einzelheiten von der nördlichen Norm. Rundfunk und Fernsehen festigen sie. Insofern sie in Dialekten gewurzelt ist, macht sich wieder vorwiegend brabantischer Einfluss bemerkbar. Umgekehrt beeinflusst die normierte südliche Aussprache in zahlreichen Einzelheiten die Dialekte.